Gelöschte Szenen und Bonusszenen

Inoffizielle Leseproben von Szenen, die zwar im Die Wächter der Tore Universum spielen, aber es nicht in die fertigen Bücher geschafft haben. Bitte beachten, dass diese Szenen nicht lektoriert wurden, ich stelle sie hier lediglich als kostenlosen, zusätzlichen Inhalt zu den offiziell veröffentlichten Büchern zur Verfügung.

Leseproben aus den veröffentlichten Büchern sind hier zu finden.

Band 1 Alternativer Prolog

Band 1 Bonusszene: Eine schicksalhafte Begegnung


Silkaris Hoffnung | Alternativer Prolog | Die Königin und Lord Saban

Silkari war ihre letzte Zuflucht gewesen, als die anderen Welten im Krieg zerstört worden waren. Nach inzwischen sieben Jahren war er zu ihrer neuen Heimat geworden, die es zu verteidigen galt. Noch wusste jedoch keiner von ihnen, dass es Grund zur Verteidigung gab.
Nachdenklich beobachtete die Königin das Treiben in der Stadt vom Fenster des Palastes aus. Es war ihr immer bewusst gewesen, dass dieser Tag kommen musste, auch wenn sie gebetet hatte, es würde etwas mehr Zeit bleiben. Die alten Wunden waren noch nicht verheilt, die Narben würden erneut aufgerissen werden.
»Eure Majestät?«

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Lächelnd wandte sie sich zu dem Besucher um. »Lord Saban.«
»Ihr habt mich rufen lassen?«
»Allerdings, es gibt Wichtiges zu besprechen.« 
Saban, der bis zu diesem Moment in einer Verbeugung verharrt war, richtete sich auf und sah sie ernst an. »Ihr klingt ausgesprochen besorgt. Was ist passiert?«
Bevor die Königin antwortete, betrachtete sie den Mann genauer. Saban gehörte zu den stärksten und loyalsten Kriegern, denen sie je begegnet war, und sie hatte seinen Vorschlag, eine Palastwache zu werden, nur zu gerne angenommen, ihn sogar sofort zum Oberkommandanten ernannt. Er war von Sadark zu ihnen gekommen, der Welt des Schlangenvolkes, und mit beinahe fünfzig Jahren noch in der Blüte seiner Jugend. Seine Herkunft war äußerlich sehr leicht erkennbar, denn wie bei allen Sadarkianern wuchs ein Schlangenschwanz aus seinem unteren Rücken, in Sabans Fall in sattem dunkelgrün, mit hellgrünen Mustern auf den schimmernden Schuppen. In diesem Moment war der Oberkommandant entspannt und hatten den Schlangenschwanz um seine eigene Körpermitte gelegt wie einen Gürtel. Ein Zeichen für seine hohe Geburt, denn dieses Verhalten wurde ausschließlich den adeligen Kindern Sadarks antrainiert. 
Die Königin erinnerte sich noch sehr gut an ihre erste Begegnung mit Saban. Er war unter den wenigen Sadarkianern gewesen, die rechtzeitig entkommen waren, und hatte seine schwer verwundete, schwangere Frau Kayzope im Arm gehalten, als er um Hilfe flehend auf die Knie gefallen war. Sofort waren mehrere heilkundige Frauen herangeeilt, um der Verwundeten zu helfen, und es hatte noch drei Tage gedauert, bis endlich verkündet werden konnte, dass Kayzope nicht länger in Lebensgefahr schwebte. Jedoch war ihr Schlangenschwanz im Kampf abgetrennt worden und unrettbar verloren. Die schwere Depression, die dieser Erkenntnis folgte, hatte den Zustand der Sadarkianerin erneut verschlechtert. Saban hatte seine Frau wochenlang gepflegt und umsorgt bis sie wieder vollständig bei Kräften war. Die beiden waren inzwischen ein beliebtes, gern gesehenes Paar und ihr Glück wurde durch gesunde Drillinge gekrönt.
Die Königin wusste, dass Saban nicht nur ihr bester Krieger, sondern auch ein wundervoller Ehemann und Vater war. Deswegen war es ihr nicht leichtgefallen, ausgerechnet ihn für die Vorbereitungen auszuwählen. Doch er war die beste Wahl.
»Ich fürchte, es ist Zeit, Lord Saban«, sagte sie schweren Herzens. »Informiert den Adel, so diskret wie möglich. Die fähigsten Krieger aller Völker müssen sich um die Hauptstadt versammeln.«
Saban erkannte die volle Bedeutung dieser Worte sofort. »Ihr glaubt, sie sind zurückgekehrt? Und auf dem Weg hierher?«
Die Königin nickte. »Ich bin absolut sicher.«
Der Krieger stieß ein enttäuschtes Stöhnen aus. »Wie viel Zeit bleibt uns noch? Soll ich mich sofort auf den Weg machen?«
Sie ließ sich auf ihrem reich verzierten Thron nieder, bevor sie antwortete. Er war ein Geschenk gewesen. Sie selbst machte sich nichts aus Prunk und hatte sich in diesem auffälligen Stuhl noch nie wohl gefühlt.
»Morgen ist früh genug. Unser Vorgehen muss wohlbedacht sein, ich möchte keine vorzeitige Panik auslösen.« Der silberne Thron war kalt und sie spürte ein Frösteln an den Unterarmen.
»Gut.« Saban zögerte einen Moment. »Aller Völker?« 
»Wir werden jeden brauchen. Letztes Mal hatten sie einen Vorteil, weil sie die Welten einzeln überfallen haben. Sie kannten die Stärken und Schwächen der Bewohner. Aber wenn wir unsere Fähigkeiten vereinen, fehlt ihnen dieser Vorteil.«
Saban nickte. »Ich werde morgen in aller Frühe aufbrechen. Ihr könnt Euch auf mich verlassen.« Er zögerte einen Moment, bevor er noch einmal betont nachhakte: »Wirklich alle?«
Die Königin lächelte wissend. »Wir werden auch seine Kräfte brauchen, Saban.«
Der Sadarkianer schnaubte verächtlich. »Er wird niemals an unserer Seite kämpfen! Er denkt nur an sich. Seit er hier ist, schottet er sich ab. Er hat Euch als Königin doch noch nicht einmal anerkannt!« 
»Auch Migoda ist jetzt Vater. Er wird seinen Sohn beschützen wollen.«
Saban sah immer noch nicht überzeugt aus. Er verschränkte die Arme vor der Brust und wollte offenbar erneut dazu ansetzen, sie vom Gegenteil zu überzeugen. 
Sie seufzte und unterbrach ihn. »Es wird Zeit, Euren Streit zu beenden, wenn auch nur für einen einzigen gemeinsamen Kampf! Sadark und Peero sind gleichermaßen zerstört, Euer Hass aufeinander hätte mit Euren Welten untergehen sollen.«
»Wusstet Ihr, dass er sich weigert, den Titel des Rakja abzulegen?«, fragte Saban gereizt. 
Ja, das wusste sie, denn Saban selbst wies sie in regelmäßigen Abständen darauf hin. Rakja war der Titel für Könige von Peero. Für Saban war es gleichermaßen ein Schimpfwort, denn die Sadarkianer und Peeroianer hatten seit Generationen immer wieder Kriege gegeneinander geführt.
»Es spielt keine Rolle«, sagte die Königin bestimmt. »Wir brauchen Migodas Kräfte in diesem Kampf. Wenn er für seine Gefolgsleute immer noch ein König ist, können wir das im Moment ohnehin nicht ändern. Es war zu erwarten, dass es einigen schwerer fallen wird, die alten Bräuche und Gewohnheiten abzulegen, als anderen. Solange sie sich trotzdem an unsere Gesetze halten, habe ich größere Sorgen.«
»Wir brauchen auch seine Köter nicht!«, gab Saban forsch zurück. Die beeindruckendste Fähigkeit der Peeroianer bestand darin, sich in übergroße Hunde zu verwandeln, weswegen gewöhnliche Hunde und Wölfe sich ihnen irgendwann untergeordnet hatten. Migodas Gefolge bestand aus einem ständig wachsenden Rudel.
»Wir brauchen jeden«, wiederholte die Königin noch einmal nachdrücklich. Sie verstand Sabans Misstrauen vollkommen. Doch diese Diskussion hatten sie schon einhundert Mal geführt. Sie würden auch heute nicht zu einer Einigung finden. Sabans Seufzen sagte ihr glücklicherweise, dass er das ebenfalls erkannt hatte.
»Obwohl wir alle von so verschiedenen Orten kommen, gleichen wir uns doch sehr. Wir müssen lernen, dass wir keine unterschiedlichen Völker mehr sind, die nebeneinander existieren, sondern ein einziges Volk mit unterschiedlichen Fähigkeiten, Stärken und Schwächen. Das ist unsere größte Stärke. Unser Vorteil.«
»Ihr könntet das Tor der Zukunft befragen«, schlug Saban unsicher vor. »Die Tore haben uns letztes Mal geholfen, sie werden es wieder tun. Wir könnten sehen, woran wir scheitern würden und wir könnten … «  
Die Königin schnitt ihm energisch das Wort ab. »Die Tore sind keine Orakel, die dem Willen eines Einzelnen gehorchen. Sie besitzen einen eigenen Willen. Als unsere Existenz bedroht war, haben sie die Überlebenden zu uns gebracht, um uns allen eine zweite Chance zu geben. Mehr können wir nicht verlangen! Es liegt nun an uns, diese Chance weise zu nutzen. Unser Zuhause zu verteidigen.«
Als Saban betroffen schwieg, fügte sie leise hinzu: »Allerdings werden die Tore sie direkt hierherführen.« 
Die drei Tore. Die Herrscher über die Zeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die mächtigen Drachen, von vielen Völkern als Götter verehrt. Sie konnten jeweils über ein magisches Artefakt gerufen werden, wenn die Wappet – der Überbegriff für alle Völker – auf ihre Hilfe angewiesen waren. Die Königin selbst war eine der Torträgerinnen, eine jene auserwählten Personen, die eines dieser Artefakte besaßen. Ihre Hand legte sich fast automatisch auf ihre Brust, wo sie die Wärme spüren konnte, wenn sie eine Verbindung zu ihm aufbaute. Das Artefakt befand sich in ihrem Körper. Was nur einen Weg zuließ, sie davon zu trennen. 
Ihre Schwestern waren im Besitz der anderen beiden und ihre Feinde wussten das ebenfalls. Sie würden sich einen Weg in das Schloss schlagen, um die Schwestern zu töten und die Tore zu bekommen.
»Wir werden Euch beschützen«, sagte Saban entschlossen, als hätte er ihre Gedanken gelesen. 
Die Königin antwortete nicht sofort. Ihr Blick wanderte zur Eingangstür, die sich leise öffnete. Wie aufs Stichwort traten zwei Frauen ein, gekleidet in strahlend weiße Gewänder, die an die schlichten Roben der Priesterinnen erinnerten. Eine trug ihr silbern schimmerndes Haar zu einem kunstvollen Zopf gesteckt, die andere hatte es sich auf wenige Millimeter Länge abrasiert. Priesterinnen waren sie beide nicht. Die jüngste Schwester war verheiratet und hatte einen Sohn, die mittlere war eine begabte Kriegerin.
»Das wäre alles, Lord Saban. Ihr solltet jetzt nach Hause gehen«, sagte die Königin und erhob sich aus ihrem Thron.

Silkaris Hoffnung | Prequelszene | Bonusszene | Eine schicksalhafte Begegnung

Etwa 15 Jahre vor den Ereignissen von Silkaris Hoffnung...


Atemlos stieß Raidra einen ganzen Schwall peeroianischer Flüche aus, als er den Weg entlangrannte.
»Perres, bleib stehen!«
Wie konnte der Welpe mit seinen kurzen Beinen nur so schnell sein? Und wieso war er so verflucht dickköpfig? Ständig jagte er irgendwelchen Gerüchen hinterher und ignorierte Raidras Befehle.
Er konnte die Stimme seines Vaters regelrecht hören.
»Wenn es dir nicht gelingt, einen Welpen zu disziplinieren, wie willst du dann ein ganzes Rudel anführen?«
Ein Blick über die Schulter verriet Raidra, dass kein Rudelmitglied in der Nähe war. Er hatte seine Aufpasser wohl mal wieder erfolgreich abgeschüttelt, aber sie würden ihn bald wiederfinden. Das taten sie immer.
Beinahe wäre er kopfüber in den Fluss gestürzt, als er den Kopf wieder nach vorne drehte und viel zu spät abbremste. Perres war durch den Fluss gelaufen? Das würde erklären, warum er seinen Geruch nicht mehr so gut wahrnehmen konnte.
»Wir dürfen da nicht hin, Perres!«, brüllte Raidra aus vollem Hals. 

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Die andere Seite des Flusses war streng verboten. Raidra verschränkte die Arme vor der Brust und wartete, beruhigte seinen Atem. Doch vor ihm lag nur ein relativ schmaler und flacher Teil des Flusses, dahinter ein Stück Wald. Er hörte nichts außer dem Plätschern von Wasser und dem Wind, der sanft durch die Blätter der Bäume strich. Mit einem langen Blick zu beiden Seiten vergewisserte er sich, dass niemand in der Nähe war. Kein Hund, kein Wolf, kein Wappet.
Ich sollte nicht hier sein.
Doch ohne Perres nach Hause zu kommen, würde ihn in Schwierigkeiten bringen. Er würde erklären müssen, dass der Welpe ihm davongelaufen war. Schon wieder. Peeroianische Jungen bekamen einen Welpen geschenkt, um den sie sich kümmern und den sie erziehen sollten. So lernten sie, Verantwortung zu übernehmen. Doch vielleicht würde sein Vater jetzt zu dem Schluss kommen, dass es doch zu früh gewesen war. Er würde ihm den Welpen wieder wegnehmen. Perres raubte ihm den letzten Nerv, doch Raidra wollte ihn auf keinen Fall verlieren.
Ein großer Stein ragte aus dem Wasser. Er sah glitschig aus, aber vielleicht, wenn Raidra schnell genug war …
Bevor ihn der Mut verlassen konnte, nahm er Anlauf und sprang auf den Stein und über ihn hinweg. Auf der anderen Flussseite blieb sein Fuß im weichen Untergrund stecken und er stolperte, landete hart auf den Knien. Grummelnd befreite er seinen Fuß. Ja, der Stiefel war hinüber. Der Absatz hatte jetzt einen Riss, das Leder an der Ferse ebenfalls. Doch Raidra zuckte mit den Schultern. Er war ein peeroianischer Prinz mit einer Mutter, die gerne Silber für ihn ausgab. Wenn er eine Sache im Überfluss besaß, war es Kleidung.
Langsam wuchs seine Wut auf Perres, als er in den Wald hineinstapfte.
Ich sollte wirklich nicht hier sein.
Normalerweise kam der Welpe immer noch nach kurzer Zeit zu ihm zurückgerannt. Doch heute hatte offensichtlich irgendetwas seine Aufmerksamkeit gefesselt.
Noch bevor er den Gedanken beendet hatte, stieg Raidra ein fremder Geruch in die Nase. Er versuchte, die Richtung auszumachen, aus der er kam. Da hörte er Perres leises Bellen in der Ferne. Wenig überraschend kam der Geruch aus derselben Richtung.
Er hechtete durch den Wald, folgte dem Geruch wie auch dem lauter werdenden Bellen. Dann hörte er eine Stimme. Eine Jungenstimme und sie klang sehr aufgebracht.
Raidra stolperte auf eine Lichtung und blieb sofort stehen. Er hatte Perres gefunden. Der junge Hund stand mit gefletschten Zähnen und aufgestelltem Schwanz vor einem blonden Jungen, knurrte und bellte ihn an. Immer wieder ging er ein paar Schritte zur Seite, doch der Junge drehte sich mit, ließ Perres nicht aus den Augen. Und dann begriff Raidra, dass Perres gar nicht an dem Jungen interessiert war, sondern an dem sonderbaren Tier ohne Arme oder Beine, mit grau schimmernden Schuppen, das sich hinter dem Jungen aufgestellt hatte und angriffslustig fauchte.
»Wow!, entfuhr es Raidra und alle drei reagierten gleichzeitig auf ihn. Das seltsame Tier drehte sich blitzschnell um und fixierte ihn, der Junge schob es weiter zurück und veränderte seine Position, so dass er Raidra nicht mehr den Rücken zugewandt hatte und Perres sah begeistert auf, bellte zur Begrüßung und wedelte mit dem Schwanz.
Raidra kam näher.
»Was ist das?«, fragte er neugierig.
»Hä?« Der andere Junge sah ihn verständnislos an und Perres bellte erneut, was den Jungen zusammenzucken ließ.
»Perres, sei doch still«, fauchte Raidra genervt.
»Ist das deiner?« Der Junge kniff missbilligend die Augen zusammen. »Er hat hier nichts zu suchen!«
Raidra musterte ihn. Er war sich ganz sicher, dass er Angst hatte, denn seine Stimme zitterte. Doch er hielt sich aufrecht und straffte die Schultern. Weil er das merkwürdige Tier nicht von ihnen beiden gleichzeitig abschirmen konnte, gab er ihm ein Fingerzeichen und obwohl das Tier keine Arme hatte, kletterte es an ihm hinauf. Der graue Schwanz schlang sich um die Hüfte des Jungen und erst jetzt begriff Raidra, dass der grün geschuppte Schwanz demnach zu dem Jungen selbst gehörte. Dieser wich nun einige Schritte zurück, doch seine Augen zuckten zwischen Raidra und Perres hin und her.
Ich sollte wirklich, wirklich nicht hier sein.
»Er macht dir Angst?«, begriff Raidra. Dass der Junge vor ihm zurückwich, gefiel ihm nicht. Er wollte schließlich nichts Böses. »Perres, hör auf! Geh weg von ihm!«
Er war selbst überrascht von der Autorität in seiner Stimme und sie verfehlte ihre Wirkung nicht. Perres beendete sein drohendes Knurren, sah auf und sprang mit wenigen Sätzen an Raidras Seite.
»Es ist eine Riesennatter, Raidra«, murmelte Perres aufgeregt. »Eine echte sadarkianische Riesennatter!«
»Was tuschelt ihr?«, fragte der blonde Junge. Das merkwürdige Tier gab zischelnde Laute von sich und als der Junge etwas zurückmurmelte, begriff Raidra, dass er das Tier offenbar verstehen konnte.
»Das ist eine Schlange?«, fragte Raidra. Er hatte noch nie eine echte Schlange gesehen. Sie war viel kleiner und viel weniger furchterregend als in den Geschichtsbüchern seiner Lehrer.
»Was soll sie denn sonst sein?«
»Darf ich sie anfassen?«
Der Junge zog jetzt ein regelrecht panisches Gesicht und die Schlange zischte wütend. Raidra hob die Hände.
»Ich will ihr doch nichts tun.«
»Sag ihm das«, fauchte der Junge mit einem finsteren Blick auf Perres.
Raidra zuckte mit den Schultern. »Er meint es nicht böse. Er ist ein Hund. Er jagt.«
»Er soll etwas anderes jagen. Ameba ist meine Freundin.«
»Das ist also ihr Name? Freut mich, Ameba!« Raidra winkte. »Wird sie mir etwas tun, wenn ich näherkomme?«
Der Junge musterte ihn konzentriert. »Ja, wenn ich es ihr sage.«
»Und?« Raidra biss sich auf die Lippe, um sein Lachen zu unterdrücken. Es war eindeutig eine leere Drohung, aber er wollte nicht, dass er andere dachte, er würde ihn auslachen. »Wirst du?«
Es folgte eine lange, nachdenkliche Pause. »Nein. Hast du denn keine Angst vor ihr?«
»Wieso sollte ich?«
»Die anderen Kinder haben Angst vor ihr.«
Die Schlange züngelte nach diesen Worten, beinahe als wollte sie sich entschuldigen. Der Junge streichelte ihr kurz über den Kopf.
»Ich kenne das. Die anderen Kinder haben Angst vor den Hunden.« Raidra sah zu Perres hinunter und streichelte ihn kurz hinter den Ohren. »Perres ist noch klein, aber der Rest des Rudels schleicht immer um mich herum. Ich mag Titziana, aber sie ist so riesig, und niemand spielt mit mir, wenn sie dabei ist.«
Der andere Junge wich einen Schritt zurück und sah nervös an Raidra vorbei.
»Oh, nein, sie sind jetzt nicht hier, keine Angst.«
»Ich habe keine Angst.«
Eine Lüge. Aber Raidra sagte nichts dazu. Es war keine böse gemeinte Lüge, der Junge wollte einfach nicht, dass jemand seine Angst erkennen konnte. Raidra kannte das Gefühl sehr gut.
»Nun… wenn ich keine Angst habe und du keine Angst hast, können wir doch zusammen spielen.«
Schweigen. Der blonde Junge verschränkte die Arme vor der Brust und zog die Stirn in Falten, als versuchte er, ein schwieriges Rätsel zu lösen.
»Ich bin Raidra«, sagte er leise, um die Stille zu durchbrechen.
»Ich weiß. Ich darf nicht mit dir sprechen.«
»Oh.«
Ja, natürlich. Das hätte ihm klar sein müssen, als er begriffen hatte, dass der andere Junge ein Sadarkianer war. Die Sadarkianer hassten die Peeroianer, wieso auch immer.
Die anderen Kinder spielten nicht mit Raidra, weil sie Angst vor seinem Vater hatten, vor dem Rudel. Dieser Junge hier hasste ihn. Dabei kannte er ihn nicht einmal. Das machte Raidra merkwürdig wütend. Er hatte ihm überhaupt nichts getan.
»Dann will ich dich nicht in Schwierigkeiten bringen«, fauchte er. Oder er versuchte, zu fauchen. Seine Stimme war merkwürdig zittrig und das machte ihn nur noch wütender. Er ballte die Hände zu Fäusten und drehte sich auf dem Absatz um.
»Du siehst überhaupt nicht gefährlich aus.« 
Die Bemerkung hielt ihn bereits nach einem Schritt zurück und er sah über die Schulter. Der Sadarkianer musterte ihn immer noch konzentriert. Allerdings lag keine Abscheu, kein Hass in seinem Blick. Seine Wangen färbten sich jetzt sogar etwas rosig, so als wäre es ihm peinlich, dass ihm das herausgerutscht war. Raidras Hände entspannten sich sofort.
»Warum auch? Ich suche nur jemanden zum Spielen.«
Der andere Junge nickte. »Und du hast wirklich keine Angst vor ihr?« Er deutete auf die Schlange, die inzwischen von ihm heruntergeklettert war und sich neben ihm im Gras erhob.
»Nein, habe ich nicht.«
Er löste seine verschränkten Arme. »Welche Spiele kennst du denn?«
»Normalerweise spielen Perres und ich jagen. Einer geht voraus und versucht, seine Fährte zu vertuschen, der andere muss ihn finden. Aber das wird mit dir nicht klappen, ich kann dich meilenweit riechen.«
»Dieses Spiel heißt Verstecken«, erklärte der andere mit einem besserwisserischen Unterton, den Raidra sehr amüsant fand. »Und nein, das wird nicht klappen.« Er verzog das Gesicht und schien angestrengt zu überlegen. »Kannst du klettern?«
Raidra straffte die Schultern. »Natürlich.«
»Du lügst.« Er sagte es freundlich, seine Lippen kräuselten sich dabei ein wenig. 
Raidra gab sich geschlagen. »Schön, ich habe es noch nicht ausprobiert. Aber das kann ja nicht so schwer sein.«
Ein schelmisches Funkeln schlich sich in die türkisblauen Augen des Jungen. »Mhm. Wir werden sehen.« Dann deutete er in den Wald. »Dort hinten wachsen Obstbäume, aber die Tiere fressen das niedrighängende Obst. Wenn wir es schaffen, in die Baumkrone zu klettern, können wir uns etwas pflücken.«
»Wo ist das Spiel dabei? Wer es zuerst schafft?«
»Nein, wir müssen zusammenarbeiten. Ich helfe dir, du hilfst mir. Es wird ein gemeinsamer Sieg.«
»Aber wer bekommt dann das Obst?«
»Wir teilen.« Die Antwort klang, als wäre dies selbstverständlich und als hätte Raidra eine dumme Frage gestellt. Hatte er vielleicht auch. Er musste nie mit irgendjemandem etwas teilen, erst recht kein Essen. Aber die Aussicht darauf störte ihn nicht.
»Worauf warten wir dann noch?« 
Er ging zu dem Jungen hinüber, Perres Proteste neben sich ignorierend. Die Schlange -  Ameba hieß sie doch, oder? – zischelte dem blonden Jungen ebenfalls etwas zu, das stark nach einem Protest klang, auch wenn Raidra die Worte nicht verstehen konnte. Der Junge wedelte mit der Hand und zog ein genervtes Gesicht, während er ihr antwortete. Als er den Kopf drehte, sah er Raidra direkt in die Augen.
»Fast vergessen …«, murmelte er und streckte die Hand nach ihm aus. »Ich bin Gerad.«
Raidra konnte nicht verhindern, dass sich ein Lächeln auf sein Gesicht schlich. Der Händedruck war überraschend warm. Sein Vater hatte ihm erzählt, dass die Sadarkianer immer kalt waren.
Vielleicht war Gerad kein gewöhnlicher Sadarkianer.